15. Dezember 2016

Wie man der Lohnsklaverei entkommt...



Rezension zu  "Ich bin raus" von Robert Wringham

 


Wir alle sitzen in der Falle. Wie die Maus, die gerne das fette Stück Speck hätte. Doch heißt unsere Falle: Arbeit und Konsum. Wie wir uns daraus befreien können, sagt uns der Autor und „Entfesselungskünstler“ Robert Wringham.

Robert Wringhams Buch „Ich bin raus“ ist in drei Teile gegliedert. Es hat eine klassische Ratgeberstruktur, in dem es zuerst die Ist-Situation des Lesers beleuchtet (Die Falle), dann die Soll-Situation erklärt (Freiheit) und schließlich im letzten Kapitel (Entfesselung) den Weg zur Soll-Situation darlegt.

Teil I beschreibt unser Leben in der Falle. Wringham startet im Unterkapitel Arbeit mit Beschreibungen von typischen Arbeitsverhältnissen und Situationen aus der Arbeitswelt, in denen sich ein Großteil der Leser wiedererkennen wird. Dazu kommen Erzählungen aus seinem eigenen Arbeitsleben. Besonders lehrreich an diesem Kapitel ist die Beleuchtung der Geschichte der Arbeit. Das Unterkapitel schließt mit dem Fazit „unserer“ Ist-Situation: Wir arbeiten um Geld zu verdienen, um zu konsumieren. Das Unterkapitel Konsum erklärt, welche negativen Auswirkungen Konsum auf uns hat und wieso wir so viel konsumieren: Es wurde uns eingetrichtert, dass Konsum gleichbedeutend ist mit Spaß. Und wer möchte bitte keinen Spaß haben, wenn er schon jeden Tag acht Stunden arbeiten muss? Welchen Part die Bürokratie in der Falle spielt und warum auch unsere „Höhlenmenschengehirne“ schuld an unserem Fallen-Dasein sind, erklären die letzten beiden Unterkapitel. In Teil II führt der Autor uns vor Augen, wie ein Leben außerhalb der Falle aussehen könnte. Das Stichwort ist hier: Das Gute Leben. Das Gute Leben besteht aus: in Frieden arbeiten, in Würde leben und sein Glück finden. Welche Voraussetzungen es dafür braucht, wie andere „Entfesselungskünstler“ leben und wie der Autor selber ein gutes Leben lebt, sind die zentralen Inhalte in Teil II. Nachdem der Leser weiß, wie die Falle aussieht und funktioniert und wie es anders gehen könnte, fehlen noch die Ratschläge, wie man sich daraus befreit. Diese folgen in Teil III. Der Autor macht zahlreiche Vorschläge, um der Arbeit, dem Konsum, der Bürokratie und unseren Höhlenmenschengehirnen zu entkommen und vergisst auch nicht, davon zu berichten, was nach der „Entfesselung“ wichtig ist.


Der Untertitel des Buches „Wege aus der Arbeit, dem Konsum und der Verzweiflung“ verspricht viel. Und dieses Versprechen wird gehalten. Was sich nicht von jedem Ratgeber sagen lässt. Die Beschreibung der Arbeits- und Lebenssituation vieler Menschen zu Beginn des Buches, trifft den Nagel auf den Kopf. Als Leser beendet man so gut wie jeden Satz mit einem Kopfnicken. Die Leichtigkeit der Sprache und der Humor des Autors helfen glücklicherweise dabei, nicht an der eigenen Situation zu verzweifeln. Und am Ende steht das Fazit, das man selber vor einiger Zeit schon gezogen hat. Doch man selbst hielt sich für einen Spinner, so zu denken. Das Buch lässt einen aber erkennen, dass man kein Spinner ist, wenn man sich danach sehnt, sein Leben jetzt zu leben und nicht erst nach 40 Jahren Lohnsklaverei, wenn es vielleicht schon zu spät ist. Und nach dieser Erkenntnis brennt der Leser darauf, endlich den Ausweg kennenzulernen - und der Autor zeigt uns welche auf. Und zwar für jeden: Teilzeitarbeit für vorsichtige Entfesselungskünstler bis hin zu verrückten Entfesselungsideen. Die Voraussetzung bei allen Auswegen ist immer eine Reduzierung des Konsums. Welche Möglichkeiten es dabei gibt, wird ebenfalls anschaulich erklärt, so dass der Leser am Ende das Gefühl hat, dass die Flucht wirklich gelingen kann. Die unterbreiteten Vorschläge sind nie realitätsfern und die Aussagen des Autors werden untermauert durch Verweise auf andere Autoren, auf historische Persönlichkeiten und Beispiele aus dem Hier und Jetzt. Ich bin froh dieses Buch gelesen zu haben, das mich daran glauben lässt, dass ein anderes, ein freies Leben möglich ist!

Broschiert: 336 Seiten
Verlag: Heyne Verlag (29. August 2016)
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3453270800

1. Dezember 2016

Fremde Seele, dunkler Wald



Rezension zu „Fremde Seele, dunkler Wald“  von Reinhard Kaiser-Mühlecker

 


Jakob und Alexander sind Brüder. Aufgewachsen sind sie mit ihrer Schwester auf dem elterlichen Hof in einem österreichischen Dorf in der Nähe von Wien. Während Alexander beim Militär im Ausland stationiert ist, bewirtschaftet Jakob den Hof, der kurz vor dem Zerfall steht.

Alexander ist 30 Jahre alt und arbeitet beim Militär. Aufgrund einer Verletzung ist er auf Heimaturlaub bei seiner Familie. Eigentlich wollte er Pastor werden und ging sogar – gegen den Willen der Eltern - auf das Stiftsgymnasium. Doch sein inniger Wunsch geht nicht in Erfüllung. Er beginnt stattdessen, Medizin in Wien zu studieren. Dort verliert er sich in Partys und losen Bekanntschaften und hält es irgendwann nicht mehr aus. Er geht zum Militär und lässt sich ins Ausland versetzen. Beim Militär findet er eine Gemeinschaft, in der er sich selber wiedererkennt: Menschen, die nicht so recht etwas mit sich anzufangen wissen, die es bei der Familie nicht aushalten, aber auch das Alleinsein nicht aushalten. Bei seinem Heimaturlaub wird ihm das wieder ganz bewusst. Mit seinen Eltern gibt es nichts zu reden und Jakob scheint kein rechtes Interesse mehr an ihm zu haben. Weil er die Tage fast nur im Wirtshaus verbringt, beschließt Alexander, früher als geplant, zum Dienst zurückzukehren. Die Zeit bei der Familie verblasst. Das Campleben und seine Geliebte vertreiben Alexander die Zeit. Doch mit dem Winter und dem Ende seiner Liaison kommen Langeweile und Schwermut auf. Er wechselt ins Verteidigungsministerium nach Wien, wo er bald eine Affäre mit der Frau seines Brigadiers beginnt. Was als eine belanglose Affäre beginnt, wird für Alexander zu einer großen Herausforderung.

Jakob ist 15 und arbeitet nach seinem Hauptschulabschluss auf dem elterlichen Hof. Der Vater muss Stück für Stück den Hof verkaufen und lässt Jakob mit der Arbeit alleine, während er immer neuen Verdienstmöglichkeiten hinterherrennt. Früher sah Jakob zu seinem großen Bruder auf, doch seit Alexander zu Besuch ist, geht ihm dieser mit seinem „militärischen Gebaren“ und seinen Unternehmungen nur noch auf die Nerven. Jakob hat keine richtigen Freunde. Aber er trifft sich regelmäßig mit seinem Schulkameraden Markus, weil sie ineinander sich selbst erkennen. Außerdem verbringt er viel Zeit bei Nina, obwohl er sie gar nicht richtig mag, nichts für sie fühlt. Die Arbeit auf dem Hof wird, ob der Verkäufe, immer weniger und Jakob beginnt, für eine Leasingfirma zu arbeiten. Nina wird schwanger und sie ziehen zusammen. Jakob ist froh vom zu Grunde gehenden Hof wegzukommen. Doch nach einiger Zeit hält er es bei Frau und Kind nicht mehr aus. Mord- und Selbstmordgedanken quälen ihn. So sucht Jakob Hilfe bei Markus. Doch bevor er diesem von seiner Not erzählen kann, bringt Markus sich um. Nina und er trennen sich und Jakob erfährt, dass ihr Kind von Markus ist. Als ein schlimmes Gerücht, Markus‘ Tod betreffend, die Runde macht, wird Jakobs Leben nicht leichter und er beschließt in die Fußstapfen seines Bruders zu treten.

Die Geschichte der beiden Brüder spielt im Hier und Jetzt. Doch trotz Handy, Laptop und Krimkrise scheinen die Protagonisten in einer Zeit zu leben, in der es außer der Arbeit, keine wirkliche Ablenkung zu geben scheint. Das Leben erhält seine Struktur durch die Jahreszeiten und wird von Arbeit bestimmt. Und obwohl die Jahreszeiten wechseln, kommt es dem Leser so vor, als sei es stetig Winter. So schwer lasten die beschriebenen Gefühle von Melancholie, Depression, Leere und Sinnlosigkeit auf den Brüdern und auf dem Leser. Ohne auch nur einmal beim Namen genannt zu werden. Die seelische Not, die die beiden Brüder empfinden, scheint bei Jakob am größten zu sein. Zuerst kommt er zu der Erkenntnis gar nichts zu fühlen, keine Leidenschaft zu kennen und nie kennenzulernen. Später wandelt sich dieses Nichts in eine unbändige Wut, um als Zustand eines innerlichen Zerreißens zu enden. Alexander, der im Gegensatz zum Bruder schon erwachsen ist, ist in seiner Entwicklung weiter. Er nimmt die Sinnlosigkeit seines Lebens fast stoisch hin. Die wenigen Stunden Freizeit, die nach der Arbeit bleiben, vertreibt er sich mit Wein und Lektüre und sehnsuchtsvollen Gedanken an seine ehemalige Geliebte. Er hat gelernt zu warten.

Die Sprache des Autors ist schlicht, es gibt keine ausufernden Beschreibungen, die den Blick auf das Wesentliche verstellen. Zuweilen könnte die Handlung des Buches als langweilig beschrieben werden, aber der Leser bleibt mit einem sehr nachhaltigen Eindruck der Gefühle der Protagonisten zurück.

Reinhard Kaiser-Mühlecker
Fremde Seele, dunkler Wald
Hardcover
Preis: 20 €
ISBN: 978-3-10-002428-2

21. Oktober 2016

Kindergarten-NC



Kindergarten-NC

Im Durchschnitt bekommt in Deutschland jede Frau 1,5 Kinder: der höchste Stand seit mehr als 30 Jahren. Gleichzeitig nimmt aber auch die Erwerbstätigkeit von Frauen zu: 73 % im Jahr 2014 zu 63% im Jahr 2005. Wohin also mit den Kindern, wenn beide Elternteile arbeiten?

Seit August 2013 haben Eltern einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für ihre unter dreijährigen Kinder. Doch wie viele Plätze für unter Dreijährige werden überhaupt gebraucht? Das Ergebnis einer Umfrage des Deutschen Jugendinstituts von 2012 kam zu dem Ergebnis, dass bundesweit 39,4% der Eltern einen Betreuungsplatz für ihre Kinder benötigen. Im März 2015 liegt die Betreuungsquote von unter Dreijährigen in einer Kindertages-einrichtung oder durch eine Tagespflegeperson aber bei nur 32,9%. Es fehlen also Plätze.

Anspruch

So auch der Fall bei drei Müttern aus Dresden. Sie bekamen für ihre Sprösslinge keinen Betreuungsplatz und konnten deshalb nicht wie geplant in ihren Beruf zurückkehren. Sie klagten auf Schadenersatz für ihren Verdienstausfall und der Bundesgerichtshof gab ihnen nun Recht: Eltern können Schadensersatz verlangen, wenn Gemeinden ihnen keinen Kita-Platz anbieten können. Allerdings mit einer Ausnahme: Haben Gemeinden keine Schuld an den fehlenden Betreuungsplätzen, z.B. durch einen generellen Mangel von Erziehern auf dem Arbeitsmarkt, können sie nicht haftbar gemacht werden. Dagegen sind klamme Gemeindekassen keine ausreichende Rechtfertigung für fehlende Kita-Plätze.

Wirklichkeit
Die bundesweit niedrigste Betreuungsquote gab es im März 2015 in Nordrhein-Westfalen (25,9 %).
In der NRW-Stadt Essen gibt es zur besseren Koordination und Vergabe von Kinderbetreuungsplätzen das Elternportal Little Bird, das auch von zahlreichen anderen Gemeinden genutzt wird. In diesem Portal können sich Eltern einen Überblick über die Betreuungsangebote in der Nähe verschaffen und auch „Bewerbungen“ abgeben. Bei bis zu sieben Einrichtungen können Eltern ihre Kinder vormerken lassen. Macht Little Bird den Suchenden ein Angebot, müssen sie den Platz innerhalb von 14 Tagen annehmen. Ob die Eltern aber von den anderen Kitas – die sie eventuell präferieren – noch Angebote bekommen, können sie nicht sehen. Lehnen sie den Platz ab, werden alle anderen Anfragen wieder aktiviert. Hört sich fast so an wie bei der Studienplatzvergabe für bundesweit zulassungsbeschränkte Studiengänge. Auch da können Bewerber bis zu sechs Hochschulen als Wunsch angeben. Sollte man also auch für Kindergartenplätze einen Numerus Clausus einführen? Schließlich gibt es mehr Bewerber als Plätze. Doch wonach sollte ausgewählt werden? Abiturdurchschnittsnote der Eltern? Einkommen? Schuhgröße? Kaum vorstellbar. Doch eins ist sicher, es werden mehr Betreuungsplätze benötigt!

25. Juli 2016

Short short Story



 Mittagspause


„Wieso gehen Sie hier spazieren, wenn Sie überhaupt niemanden kennen?“. Es war ein Vorwurf, dem er anhören sollte, dass er einer war. „Wegen der Ruhe, der Blumen, der Eichhörnchen, die in den Bäumen umhertollen. Das sind ja wohl genug Gründe.“ Er wurde abschätzig gemustert. Herr Marré war anscheinend kein Naturfreund und hielt ihn wohl für einen Spinner, wenn nicht sogar Verbrecher. Er suchte lieber das Weite, bevor er noch einen Blumentopf an den Kopf bekam.
Es war ein grauer, trübnasser Tag. Nur Blumen, die die Köpfe hängen ließen und kein einziges Eichhörnchen in Sicht. Was machte er also hier? Denken und atmen. Das war es und das konnte er am besten. Vor allem wenn er alleine war. In seinem Büro war er zwar meistens auch alleine, aber dort konnte jeden Moment ein Kollege hereinschneien und ihn mit irgendetwas belästigen, das nicht nur seine Laune vermieste, sondern auch den einen oder anderen guten Gedanken für immer verscheuchte. Er setzte sich auf eine feuchte Bank und schloss die Augen. Denken und atmen. Denken und atmen. Plötzlich tippt ihm jemand auf die Schulter. Er hatte es sich fast schon gedacht: Hilde Kohlbacher. Wie hatte er nur vergessen können, dass das hier ihr Platz war? Und Filou, ihr kleiner, braungescheckter Terrier war auch wieder mit von der Partie. Er tänzelte kläffend um die Bank, um anschließend auf dem Rasenstück sein Geschäft zu verrichten. „Nein Filou, lass das!“ zetert Frau Kohlbacher und reißt an der Leine. „Ach, er will einfach nicht auf mich hören. Das wollte er noch nie. Genau wie mein Mann“. „Ich hoffe ihr Mann benutzt die Toilette“, kann er noch denken, bevor sie ihm auch schon ein Hustenbonbon unter die Nase hält. „Nehmen Sie ruhig, ich kann es eh nicht gebrauchen“. Er steckt es in seine Manteltasche. Es würde Zuhause zu den anderen 20 Bonbons in die hässliche Katzenschale kommen, die er letztes Jahr von seiner Patentante zum 32. Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Eines von vielen hässlichen Geschenken für das er sich bei seiner Tante aber immer brav bedankte. Und beim Auspacken spielte er ihr sogar einen freudigen Gesichtsausdruck vor. Das musste als Zuneigung reichen. Für eine Tante, die, ohne zu zögern, in ein italienisches Feinkostgeschäft geht, um Monzarella zu kaufen und ihn, trotz seiner 32 Jahre, überall als ihr Patenkind vorstellt – ob im Damenbekleidungsgeschäft oder im Reformhaus. Was tat man nicht alles, um niemandem vor den Kopf zu stoßen? Zu viel. Jedenfalls er. Frau Kohlbacher neben ihm beginnt an ihrer Handtasche zu nesteln. „Oh nein, nicht noch mehr Bonbons!“ Doch stattdessen holt sie einen Brief aus der Tasche. „Der ist von meinem Egon, wispert Frau Kohlbacher. Letzte Woche hat er ihn mir gegeben.“ Eine Träne bahnt sich den Weg über die Falten ihres Gesichts, um anschließend von ihrer geblümten Bluse aufgesaugt zu werden. „Betrogen hat er mich. Belogen und betrogen. Zwei Jahre lang. Und ich habe nichts gemerkt. Oder nein. Ich wollte nichts merken. Da waren immer mal wieder Anzeichen, aber ich habe sie mit rationalen Argumenten weggewischt und so getan als wäre alles in Ordnung.“ Frau Kohlbachers Stimme klingt tieftraurig und wird dann verächtlich. „Er könne das nicht mehr mit sich herum tragen, er wolle es nicht mit ins Grab nehmen. Pahh, der Feigling.“ Was sollte er dazu sagen. Gab es das nicht ständig, dass Partner sich betrogen und belogen. Sollte das nicht sogar Frau Kohlbacher wissen? Er bleibt stumm. Ein Kuckuck ruft in die Stille hinein. Filou der Terrier antwortet mit einem Kläffen. „Und doch waren all die schönen Momente zu zweit real. Und auch die Gefühle waren echt. Daran können auch Lug und Betrug nichts ändern. Aber wehe wir sehen uns wieder, dann setzt es einige Ohrfeigen, bevor ich ihn in meine Arme schließe!“ Mit diesen inbrünstigen Worten verschwindet Hilde Kohlbacher so plötzlich wie sie gekommen ist.

Es ist Zeit weiterzugehen, gleich ist die Mittagspause um. Bis zur großen Eiche noch, dann würde er umkehren. Sein Handy blinkt. Er hat eine SMS von seiner Freundin bekommen. Eine lange, in der sie sich mit unschönen Worten über ihren Chef beschwert, der es nicht einmal schafft, selber etwas zu kopieren. Gerade als er das Wort „Vollkackchef“ liest, stolpert er über einen Randstein. „Immer langsam mit den jungen Pferden“, tönt es ihm entgegen. Ein Mann zupft Unkraut aus dem schlammigen Boden. Eine stattliche Erscheinung: Bundfaltenhose, Maßhemd, Cord-Jacket und ein goldener Siegelring, der frisch geputzt aussieht. „Darf ich mich vorstellen. Schnarchendorff, Wilhelm Schnarchendorff“. „Angenehm“, stammelt er und ergreift die klamme Hand seines Gegenübers. „Ich sehe Sie hier öfter. Aber immer allein. Sie haben wohl keine Freunde!“ Ein schallendes Lachen erklingt zusammen mit der Aussage. „Ähm nein, doch ja. Ich…ich bin nur in meiner Mittagspause hier.“ Keine Freunde. Stimmte das? Da waren Benjamin und Matthias von früher aus der Schule. Sie trafen sich ab und zu und dann war es auch wieder so als wäre es früher, als sie zusammen über alles lachen konnten, wenn auch manchmal erst nach zwei, drei Bier. Und dann gabs da noch ein Paar mit dem er und seine Freundin öfter etwas unternahmen, aber ist man dadurch befreundet? Freunde sind da, wenn es einem schlecht geht. Sie kann man um Hilfe bitten, mit ihnen kann man Probleme bereden. So war es jedenfalls damals in der Jugend. Aber heute? Da macht man das eher mit seinem Partner. Doch was, wenn man mit dem Partner Probleme hat? Ein lautes Fluchen schreckt ihn aus seinen Gedanken. Herr Schnarchendorff hat anscheinend das Gleichgewicht verloren und ist beim Versuch nicht hinzufallen in die Primeln getreten, deren Blüten jetzt völlig zerquetscht sind. „Wenn meine Frau das sieht, die zieht mir die Ohren lang. Ja ja, es stimmt schon was man sagt: Gott prüfet die seinen in der Kelter des Lebens.“

Beim Weggehen geht ihm dieser Spruch nicht mehr aus dem Kopf und auch die daraus folgende Erkenntnis: „Dann müsste ich schon ein Spitzenwein sein.“ Den Ausgang schon in Sichtweite, bleibt er kurzerhand stehen. War da nicht gerade ein Knacken im Gebüsch? Er geht näher heran und entdeckt eine junge Frau, die im Rhododendron kniet und einen Coffee-to-go-Becher aufhebt. Ihre Haare sind dünn und strähnig, sie trägt einen schwarzen Rock und ausgelatschte Schuhe. Zuerst will er weitergehen, doch dann entschließt er sich, die Frau anzusprechen. „Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen? Haben Sie etwas verloren?“ Doch bevor er eine Antwort bekommt, sieht er es schon selber. Neben der jungen Frau liegt eine Plastiktüte voll mit Müll. „Nein, ich sammle nur den Müll auf.“ „Sind Sie von der Stadtreinigung?“ Die Frau lacht laut auf. „Ich von der Stadtreinigung? Nein, das ist zwar meine Arbeit, aber bei der Stadt bin ich nicht angestellt.“ „Achso, dann sind Sie von der Friedhofsverwaltung?“ Die Frau kann kaum aufhören zu lachen und presst hervor: „Auch das nicht. Aber mir ist immer so furchtbar langweilig und damit ich etwas Sinnvolles tun kann, sammel ich eben den Müll auf. So einfach ist das. Das habe ich schon immer gemacht, bis dieser LKW um die Ecke kam… .“ Etwas Sinnvolles. Das würde er auch gerne tun, aber gab es das wirklich? War Müll aufsammeln sinnvoll? Es kam doch ständig neuer dazu. Sisyphos kommt ihm in den Sinn. Doch bevor er die Unterhaltung über griechische Sagen mit der jungen Frau beginnen kann, ist sie auch schon im nächsten Gebüsch verschwunden. Als er gerade durch den Ausgang gehen will, kommen ihm drei Frauen mit Kinderwagen entgegen. Ein komisches Bild denkt er: Soviel neugeborenes Leben auf einem Friedhof!

5. Februar 2016

Wetterleuchten im Roussillon



Philippe Georget: Wetterleuchten im Roussillon – Ein neuer Fall für Inspecteur Sebag


Während im ersten Buch die Hitze Perpignan noch fest im Griff hatte, zeigt jetzt die Tramontana ihr ungemütliches Gesicht. Inspecteur Sebag ermittelt deshalb meist mit hochgeschlagenem Mantelkragen, auch wenn ihn seine brennende Eifersucht eigentlich wärmen müsste.

Ein alter Mann wird erschossen in seiner Wohnung aufgefunden. Raubmord - ist der erste Gedanke der Ermittler. Doch da haben sie noch nicht die drei großen, an die Wand gemalten Buchstaben entdeckt: OAS. Die „Organisation de l’Armée Secrète“ war eine französische Untergrundbewegung während der Endphase des Algerienkriegs (1954-1962). Sie bekämpfte muslimische Algerier, die die Unabhängigkeit anstrebten, aber auch den französischen Staat. Sollte das Mordmotiv so weit in die Vergangenheit reichen? Dann müsste der Mörder schon um die 70 Jahre alt sein. Ein mordender Greis, das kann sich Gilles Sebags stets hungriger Kollege Jacques Molina kaum vorstellen. Doch die Möglichkeit, dass ein politisches Motiv hinter dem Mord steckt, beunruhigt nicht nur die beiden Inspecteurs. Und bei dem einen Mord soll es auch nicht lange bleiben. Seine Ermittlungen führen Gilles in die Gemeinschaft der Algerienfranzosen in Perpignan. Eine eingeschworene Gemeinschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hat, nicht vergessen zu werden. Doch das macht sie auch misstrauisch und verschwiegen und die Ermittlungen dadurch nicht gerade einfacher. Doch das ist nicht die einzige Sorge des Inspecteurs. Er hat seiner Tochter Severine versprochen, im Fall ihres mit dem Mofa verunglückten Freundes Matthieu, nachzuforschen. Verstrickt in zwei Fälle und mit bitteren Gedanken daran, dass seine Ehefrau Claire ihn wahrscheinlich betrogen hat, verliert Sebag wichtige Details aus den Augen. Bis er erkennt, dass Matthieus Unfall und die Morde etwas gemeinsam haben.

Erlesener Kaffee und ausgeprägte Intuition, damit verbindet man Inspecteur Gilles Sebag auch in seinem zweiten Fall. Die historische Komponente des Falls nimmt nicht zu viel Platz ein und schmiegt sich wunderbar zwischen die Kapitel, die in der Gegenwart spielen. Wer die OAS vorher nicht kannte, lernt sie jetzt ein bisschen kennen. Das macht das Buch zu einem interessanten Lesevergnügen. Und obwohl der Leser viel über den Mörder erfährt, bleibt sein Motiv lange Zeit im Dunkeln. Das hält die Spannung konstant aufrecht. Doch auch das Privatleben des Inspecteurs bietet erneut Abwechslung: Eifersucht hat von Gilles Besitz ergriffen. Doch er versucht sich gegen dieses Gefühl so gut es geht zu wehren. Philippe Georget gelingt es nicht nur einen spannenden Fall zu erzählen, sondern auch die Gefühlslage des Inspecteurs außerordentlich gut zu beschreiben. Dabei wirkt es aber nie übertrieben oder unverständlich. Ein Roman für Leser mit Freude an Spannung und Gefühl.