15. Juni 2015

Bin ich Charlie?

Je suis Charlie – oder auch nicht


Der grausame Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo ist nun fünf Monate her. Vereinzelt sieht man noch die schwarzen Schilder mit der weißen Aufschrift „Je suis Charlie“ - auch in Deutschland. Der große Schreck hat sich gelegt, doch Frankreich wurde in seinen Grundfesten erschüttert. Die Fragen: Wie konnte es dazu kommen? Wie kann man solche schrecklichen Ereignisse verhindern? bleiben. 

Foto: jackmac34/pixabay.com


Im Kampf gegen religiösen Fundamentalismus sollen in Frankreich nun die Schulen eine entscheidende Rolle spielen. Wenn es nach François Hollande geht „soll die Schule zu einem Refugium für Höflichkeit, Freundlichkeit und Respekt werden“. Helfen sollen dabei verschiedene Maßnahmen, z. B. die Wiedereinführung von Riten und Symbolen:

  • Das Tragen einer Schuluniform
  • Das Anbringen der Nationalfahne und Europaflagge an den Fassaden öffentlicher und privater Schulen
  • Das Aufhängen der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im Schulgebäude
  • Die feierliche Verleihung von Urkunden zum bestandenen baccalauréat* oder brevet*
  • Das gemeinsame Singen der Nationalhymne zu feierlichen Anlässen 

Doch was genau soll damit bezweckt werden? Wenn es nach den Politikern der französischen Regierung geht, soll den Schülern so das Bewusstsein vermittelt werden, dass die Schule ein republikanischer und geschützter Ort ist. Die Verleihung von Urkunden als besondere Auszeichnung soll zudem das Gefühl von Zusammengehörigkeit schaffen. Die Einführung einer obligatorischen Staatsbürgerkunde in allen Klassen wurde für September 2015 bereits beschlossen. Damit auch die Lehrer fit sind, um mit den Schülern Fragen zu Staatsbürgerschaft und Laizismus zu diskutieren, wurde bereits ein Fortbildungsplan aufgestellt.

Sozialfall gleich Extremist?


Die Charlie Hebdo - Attentäter Saïd und Chérif Kouachi sind beide in Frankreich geboren und wurden zu islamistischen Terroristen. Als Gründe für ihre Radikalisierung werden vor allem ihre sozialen Probleme genannt: Heimaufenthalt nach dem Tod der Mutter, Gelegenheitsjobs, Obdachlosigkeit. 2006 befand sich Chérif Kouachi im Gefängnis Fleury-Mérogis in Untersuchungshaft, wo er sich einer Gruppe von Salafisten anschloss. Wären die Beiden nicht zu Terroristen geworden, wenn sie sich zur französischen Gesellschaft zugehörig gefühlt hätten und von ihr unterstützt worden wären? 

Von der Gesellschaft abgetrennt


"Ich fühle mich von Frankreich total abgeschnitten". Diese Aussage stammt von einem 15-Jährigen, der in Clichy-sous-Bois, einem Vorort von Paris (in dem die Arbeitslosigkeit bei den unter 25-Jährigen fast 35 Prozent beträgt (2011)), lebt. An diesem Statement wird deutlich wie ausgeschlossen sich Jugendliche aus sozial schwachen Verhältnissen fühlen. Umso verständlicher wird es, wenn man hört, dass der Teenager seinen Wohnort letztes Jahr nur zwei Mal verlassen hat. Auch Sozialarbeiter, die in diesen Vororten arbeiten, bestätigen: "Die Menschen hier sehen keine Lösung – sie fühlen sich komplett abgeschnitten vom Rest der Gesellschaft." Wenn sich die Menschen fühlen als würden sie in einem ganz anderen Land leben, fernab von sozialen und ökonomischen Vorteilen, ist es nicht verwunderlich, wenn einige von ihnen vom Extremismus angezogen werden. Die Direktorin einer gemeinnützigen Organisation fasst es so zusammen: "Viele der Leute hier glauben nur noch an ihre eigenen Werte, die der Republik haben für sie keinen Wert."
Sie fühlen sich verlassen von einem System, das Einigkeit und Solidarität predigt, diese aber nicht lebt.

Foto: Hochhaus in Frankreich/karosieben/pixabay.com


Probleme der Vergangenheit


Können die geplanten Maßnahmen diesem Gefühl von „Isolation“ entgegenwirken? In der Schule etwas gelehrt zu bekommen, das man im täglichen Leben weder erlebt noch fühlt, könnte eher zu noch größeren Spannungen führen. Haben sich auch die Brüder Kouachi isoliert gefühlt? Ein Absolvent der Eliteuniversität Sciences-Po Paris mit algerischen Wurzeln sieht im Falle der Brüder Kouachi eine zusätzliche Ursache: „Die Kouachi-Brüder wollten nicht die Ehre des Propheten Mohammed rächen, sondern sie wollten sich rächen für die Situation ihrer Eltern in Frankreich und auch für die Geschichte ihrer algerischen Vorfahren“. In diesem Fall hätten die geplanten Maßnahmen auch nicht geholfen.

Wie sieht es in Deutschland aus? Wären solche Maßnahmen bei uns sinnvoll?

*baccalauréat: Entspricht unserem deutschen Abitur
*brevet: Abschlusszeugnis, das nach 9 Jahren Schulpflicht auf dem Collège erlangt wird.