Kurzgeschichte
Der Traum vom großen Hecht
Der Tag ist windig
und regnerisch. Schon seit dem Morgen. Die grauen Wolken stapeln sich
wie alte Zeitungen. Selbst jetzt am Abend haben sie sich keinen
Zentimeter fortbewegt. Der Wind hat aufgegeben sie wegzupusten.
Keine Chance.
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Foto: AnnaER/pixabay.com |
Und trotz des unwirtlichen Wetters sitzen sie da am
Ufer des Rheins. Von weit oben könnte man sie für Möwen halten,
die sich am Ufer, wie gewohnt, eine Pause gönnen. Tritt man jedoch
näher heran, sieht man, dass es keine Möwen sind, sondern Menschen.
Obwohl es doch eine Analogie gibt, sie fischen genau wie die Möwen
im trüben Wasser. Eine endlose Reihe von nassen, frierenden
Fischern. Jeder hält eine Angel in der Hand. Die wetterfeste
Kleidung ist unterschiedlich, die Gesichter alle gleich. Eine
Mischung aus Verzweiflung, Frust und Hoffnung. Jedes Gefühl tief
eingegraben in eine eigene Falte. Sie fischen nur nach Einem. Aale,
Barsche, Welse werfen sie wieder hinein.
Überhaupt ein Wunder, dass
die Fische anbeißen, wo der Köder doch fast unfassbar ist. Zeit!
Jeder Fischer hat ein größeres oder kleineres Stück seiner Zeit an
den Haken der Angel gehängt. Wenn sich der Zeitköder durch die
Fische oder das Wasser aufgelöst hat, verlässt der Angler seinen
Platz. Wahrscheinlich kommt er wieder. Vielleicht aber auch nicht.
Dann sieht man ihn irgendwo in der Stadt, in der Bahn und man bemerkt
nur noch zwei große Falten in seinem Gesicht.
Verzweiflung und
Frust.
Sonja sitzt bereits zum fünfundvierzigsten Mal am Ufer.
Die Angel in ihrer Hand ist alt, aber schön. Sie ist mit
Schnitzereien versehen. Ein Erbstück ihrer Mutter. Mit einer
Holzangel sitzt fast niemand mehr am Ufer. Die meisten haben
Hightech-Karbon-Angeln mit automatischer Leinen-Einzug-Technik. Ihre
Haken sind aus rostfreiem Stahl. Starke Angeln für den ganz großen
Fang.
Heute hat Sonja eine Stunde als Köder angehängt. Sie war
extra eine Stunde eher zur Arbeit gegangen, um die dadurch gewonnene
Zeit als Köder benutzen zu können. Die gemeinsame Pause mit den
Kollegen, die sonst immer viel Ablenkung bot, hatte sie auch
ausfallen lassen, um pünktlich am Ufer zu sein. Es kam nämlich vor,
dass alle Angelplätze schon besetzt waren.
Vor allem dann, wenn
sich wieder einige Gelegenheits- und Kurzzeitangler darunter
mischten.
Der Regen peitscht zusammen mit dem Wind in ihr
Gesicht. Die oberste Schicht ihrer Kleidung ist bereits durchnässt.
Ihre Hände umklammern die Angel so fest, dass ihre Fingerknöchel
weiß hervortreten. „Heute klappt es. Ich bin mir sicher!“ Dieses
Mantra füllt ihre Gedanken vollkommen aus, lässt Kälte und Nässe
von ihr abperlen. Gore-Tex für die Seele. War da nicht eine Bewegung
zu spüren? Sonjas Herz schlägt schneller. Schlägt so schnell, wie
der Regen auf sie nieder prasselt.
Ein kräftiger Ruck. Sonja
springt auf, kann das Gleichgewicht sonst nicht halten. Sie zieht mit
Leibeskräften – den Fisch an Land. Ein Hecht schaut sie nass an.
Er lässt seinen grün-braunen Körper wild zucken. Tanzt den Tanz
des Widerstands. „Vielleicht kann man ihn in unserem Teich halten“,
überlegt Sonja, „die Kinder hätten sicherlich ihren Spaß daran“.
Sie verwirft die Idee.
Sie hat ja nicht mal einen Eimer dabei.
Der zappelnde Hecht kommt zurück in den Fluss.
Sonja löst ihn
vorsichtig vom Haken, damit noch etwas Zeit hängen bleibt. 45
Minuten hat der Hecht schon verschluckt. Die restliche Zeit verläuft
ruhig. Als der Regen aufhört, packt sie ihre Sachen zusammen und
fährt nach Hause. Das Mantra bleibt heute wieder unerfüllt.
Nach
einem positiv verlaufenden Arztbesuch bleiben Sonja noch zwei Stunden
Zeit bis sie zur Verabredung mit ihrer besten Freundin muss. Die
Angel liegt immer im Kofferraum. Sie biegt in Richtung Rhein ab,
parkt das Auto und geht zu ihrem Stammplatz. Obwohl das Wetter besser
ist als in den vergangenen Tagen, sind nur wenige Angler da. Die
Sonne lässt das Wasser glitzern.
Touristen auf Ausflugsbooten lassen
sich zum Winken hinreißen. Sie sehen in ihrer bunten
Freizeitkleidung aus wie japanische Winkekatzen. Sonja winkt nicht
zurück. Ihr Mantra verdrängt die Gedanken an den gestrigen schönen
Abend mit ihrem Mann. Das Holz der Angel fühlt sich kalt an. Wie der
Hecht vom letzten Mal. Nach einer Stunde ist nichts passiert. Die
Wellen zerplatschen an den Steinstufen, die in den Rhein hinunter
führen. Ihr Mantra zerschellt an den Gedanken, die sie plötzlich
beschleichen. Ob es wohl schon jemals ein Angler geschafft hat, das
an Land zu ziehen worauf alle hier hoffen? Es ist nur überliefert,
dass man es hier angeln kann, aber ob es jemals geklappt hat, weiß
niemand so recht. Zweifel machen sich in Sonja breit. Aber ihre
Mutter hat hier auch schon immer geangelt und deren Mutter auch.
Sonja fühlt sich nicht verpflichtet es ihnen nach zu tun. Etwas
anderes drängt sie dazu. Die Tatsache, dass es möglich ist, dass
alle anderen auch hier stehen und das Gleiche versuchen. Gelegenheit
macht Diebe. In diesem Fall macht sie Angler.
Hat Sonja nicht
alles was es braucht, um glücklich zu sein? Das kann nicht alles
sein. Nicht wenn auch alle anderen nach mehr suchen. Fünf Minuten
bleiben ihr noch. Sie holt weit aus, zerschlägt mit dem Haken die
ruhige Wasseroberfläche. „Heute klappt es. Ich bin mir sicher!“
Der Haken sinkt durch das trübe Wasser weiter hinunter. Ein
Gummistiefel bleibt am Haken hängen. Er ist vom Nachbarangler. Der
verlor ihn vor Kurzem beim Kampf mit einem Hecht.
Vielleicht Sonjas
Hecht. So stehen dort alle am Ufer. Mit ihrer Angel in der Hand. Sie
opfern ihre Zeit für das Angeln nach dem großen Glück. Gefangen
hat es bislang keiner.
Entweder es existiert nicht oder der
gewaltige Hecht, der tief auf dem Grund lebt, hat es samt der ganzen
Zeit aufgefressen.