25. Juli 2016

Short short Story



 Mittagspause


„Wieso gehen Sie hier spazieren, wenn Sie überhaupt niemanden kennen?“. Es war ein Vorwurf, dem er anhören sollte, dass er einer war. „Wegen der Ruhe, der Blumen, der Eichhörnchen, die in den Bäumen umhertollen. Das sind ja wohl genug Gründe.“ Er wurde abschätzig gemustert. Herr Marré war anscheinend kein Naturfreund und hielt ihn wohl für einen Spinner, wenn nicht sogar Verbrecher. Er suchte lieber das Weite, bevor er noch einen Blumentopf an den Kopf bekam.
Es war ein grauer, trübnasser Tag. Nur Blumen, die die Köpfe hängen ließen und kein einziges Eichhörnchen in Sicht. Was machte er also hier? Denken und atmen. Das war es und das konnte er am besten. Vor allem wenn er alleine war. In seinem Büro war er zwar meistens auch alleine, aber dort konnte jeden Moment ein Kollege hereinschneien und ihn mit irgendetwas belästigen, das nicht nur seine Laune vermieste, sondern auch den einen oder anderen guten Gedanken für immer verscheuchte. Er setzte sich auf eine feuchte Bank und schloss die Augen. Denken und atmen. Denken und atmen. Plötzlich tippt ihm jemand auf die Schulter. Er hatte es sich fast schon gedacht: Hilde Kohlbacher. Wie hatte er nur vergessen können, dass das hier ihr Platz war? Und Filou, ihr kleiner, braungescheckter Terrier war auch wieder mit von der Partie. Er tänzelte kläffend um die Bank, um anschließend auf dem Rasenstück sein Geschäft zu verrichten. „Nein Filou, lass das!“ zetert Frau Kohlbacher und reißt an der Leine. „Ach, er will einfach nicht auf mich hören. Das wollte er noch nie. Genau wie mein Mann“. „Ich hoffe ihr Mann benutzt die Toilette“, kann er noch denken, bevor sie ihm auch schon ein Hustenbonbon unter die Nase hält. „Nehmen Sie ruhig, ich kann es eh nicht gebrauchen“. Er steckt es in seine Manteltasche. Es würde Zuhause zu den anderen 20 Bonbons in die hässliche Katzenschale kommen, die er letztes Jahr von seiner Patentante zum 32. Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Eines von vielen hässlichen Geschenken für das er sich bei seiner Tante aber immer brav bedankte. Und beim Auspacken spielte er ihr sogar einen freudigen Gesichtsausdruck vor. Das musste als Zuneigung reichen. Für eine Tante, die, ohne zu zögern, in ein italienisches Feinkostgeschäft geht, um Monzarella zu kaufen und ihn, trotz seiner 32 Jahre, überall als ihr Patenkind vorstellt – ob im Damenbekleidungsgeschäft oder im Reformhaus. Was tat man nicht alles, um niemandem vor den Kopf zu stoßen? Zu viel. Jedenfalls er. Frau Kohlbacher neben ihm beginnt an ihrer Handtasche zu nesteln. „Oh nein, nicht noch mehr Bonbons!“ Doch stattdessen holt sie einen Brief aus der Tasche. „Der ist von meinem Egon, wispert Frau Kohlbacher. Letzte Woche hat er ihn mir gegeben.“ Eine Träne bahnt sich den Weg über die Falten ihres Gesichts, um anschließend von ihrer geblümten Bluse aufgesaugt zu werden. „Betrogen hat er mich. Belogen und betrogen. Zwei Jahre lang. Und ich habe nichts gemerkt. Oder nein. Ich wollte nichts merken. Da waren immer mal wieder Anzeichen, aber ich habe sie mit rationalen Argumenten weggewischt und so getan als wäre alles in Ordnung.“ Frau Kohlbachers Stimme klingt tieftraurig und wird dann verächtlich. „Er könne das nicht mehr mit sich herum tragen, er wolle es nicht mit ins Grab nehmen. Pahh, der Feigling.“ Was sollte er dazu sagen. Gab es das nicht ständig, dass Partner sich betrogen und belogen. Sollte das nicht sogar Frau Kohlbacher wissen? Er bleibt stumm. Ein Kuckuck ruft in die Stille hinein. Filou der Terrier antwortet mit einem Kläffen. „Und doch waren all die schönen Momente zu zweit real. Und auch die Gefühle waren echt. Daran können auch Lug und Betrug nichts ändern. Aber wehe wir sehen uns wieder, dann setzt es einige Ohrfeigen, bevor ich ihn in meine Arme schließe!“ Mit diesen inbrünstigen Worten verschwindet Hilde Kohlbacher so plötzlich wie sie gekommen ist.

Es ist Zeit weiterzugehen, gleich ist die Mittagspause um. Bis zur großen Eiche noch, dann würde er umkehren. Sein Handy blinkt. Er hat eine SMS von seiner Freundin bekommen. Eine lange, in der sie sich mit unschönen Worten über ihren Chef beschwert, der es nicht einmal schafft, selber etwas zu kopieren. Gerade als er das Wort „Vollkackchef“ liest, stolpert er über einen Randstein. „Immer langsam mit den jungen Pferden“, tönt es ihm entgegen. Ein Mann zupft Unkraut aus dem schlammigen Boden. Eine stattliche Erscheinung: Bundfaltenhose, Maßhemd, Cord-Jacket und ein goldener Siegelring, der frisch geputzt aussieht. „Darf ich mich vorstellen. Schnarchendorff, Wilhelm Schnarchendorff“. „Angenehm“, stammelt er und ergreift die klamme Hand seines Gegenübers. „Ich sehe Sie hier öfter. Aber immer allein. Sie haben wohl keine Freunde!“ Ein schallendes Lachen erklingt zusammen mit der Aussage. „Ähm nein, doch ja. Ich…ich bin nur in meiner Mittagspause hier.“ Keine Freunde. Stimmte das? Da waren Benjamin und Matthias von früher aus der Schule. Sie trafen sich ab und zu und dann war es auch wieder so als wäre es früher, als sie zusammen über alles lachen konnten, wenn auch manchmal erst nach zwei, drei Bier. Und dann gabs da noch ein Paar mit dem er und seine Freundin öfter etwas unternahmen, aber ist man dadurch befreundet? Freunde sind da, wenn es einem schlecht geht. Sie kann man um Hilfe bitten, mit ihnen kann man Probleme bereden. So war es jedenfalls damals in der Jugend. Aber heute? Da macht man das eher mit seinem Partner. Doch was, wenn man mit dem Partner Probleme hat? Ein lautes Fluchen schreckt ihn aus seinen Gedanken. Herr Schnarchendorff hat anscheinend das Gleichgewicht verloren und ist beim Versuch nicht hinzufallen in die Primeln getreten, deren Blüten jetzt völlig zerquetscht sind. „Wenn meine Frau das sieht, die zieht mir die Ohren lang. Ja ja, es stimmt schon was man sagt: Gott prüfet die seinen in der Kelter des Lebens.“

Beim Weggehen geht ihm dieser Spruch nicht mehr aus dem Kopf und auch die daraus folgende Erkenntnis: „Dann müsste ich schon ein Spitzenwein sein.“ Den Ausgang schon in Sichtweite, bleibt er kurzerhand stehen. War da nicht gerade ein Knacken im Gebüsch? Er geht näher heran und entdeckt eine junge Frau, die im Rhododendron kniet und einen Coffee-to-go-Becher aufhebt. Ihre Haare sind dünn und strähnig, sie trägt einen schwarzen Rock und ausgelatschte Schuhe. Zuerst will er weitergehen, doch dann entschließt er sich, die Frau anzusprechen. „Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen? Haben Sie etwas verloren?“ Doch bevor er eine Antwort bekommt, sieht er es schon selber. Neben der jungen Frau liegt eine Plastiktüte voll mit Müll. „Nein, ich sammle nur den Müll auf.“ „Sind Sie von der Stadtreinigung?“ Die Frau lacht laut auf. „Ich von der Stadtreinigung? Nein, das ist zwar meine Arbeit, aber bei der Stadt bin ich nicht angestellt.“ „Achso, dann sind Sie von der Friedhofsverwaltung?“ Die Frau kann kaum aufhören zu lachen und presst hervor: „Auch das nicht. Aber mir ist immer so furchtbar langweilig und damit ich etwas Sinnvolles tun kann, sammel ich eben den Müll auf. So einfach ist das. Das habe ich schon immer gemacht, bis dieser LKW um die Ecke kam… .“ Etwas Sinnvolles. Das würde er auch gerne tun, aber gab es das wirklich? War Müll aufsammeln sinnvoll? Es kam doch ständig neuer dazu. Sisyphos kommt ihm in den Sinn. Doch bevor er die Unterhaltung über griechische Sagen mit der jungen Frau beginnen kann, ist sie auch schon im nächsten Gebüsch verschwunden. Als er gerade durch den Ausgang gehen will, kommen ihm drei Frauen mit Kinderwagen entgegen. Ein komisches Bild denkt er: Soviel neugeborenes Leben auf einem Friedhof!