29. Januar 2015

685 Einträge

685 Einträge...


sollten es einmal werden. So viele Einträge, wie der Rhein an Kilometern lang ist, an der Stelle, an der ich ihn immer besucht und bewundert habe.



Tatsächlich sind es nur 36 geworden. Ziel verfehlt. Dafür war die Zeit, dann doch einfach zu kurz.
Die meisten der Einträge sind auch nicht tauglich veröffentlicht zu werden. Geben sie doch soviel preis, wie der Rhein in seiner Verschwiegenheit behält. Der eine oder andere Eintrag soll es dann aber doch schaffen, sich aus dem kühlen Nass zu befreien, um auf virtuellem Papier zu trocknen:


Ein neuer Tag. Bin mit Leben in mir wieder aufgewacht. Mein Herz schlägt, die Lunge versorgt mich mit Luft. Alles konnte ich heute morgen tun mit meinem einen Tag Leben. Entschieden habe ich mich für die Option, die zur Prämisse hat, dass ich auch morgen, übermorgen und überübermorgen mit Leben in mir aufwache. Sonst wäre meine Entscheidung vielleicht anders ausgefallen. Es ist wahllos.



6. Januar 2015

Vogelfrei

Kuckuck, kuckuck ruft's aus dem Kalender

Foto: Republica/pixabay.com


















In unserem Großraumbüro hängt ein Kalender an der Wand. Meine Kollegin hat ihn in einem Preisausschreiben gewonnen und jeden Monat zeigt er ein anderes Tier. Es ist noch Juni. Deshalb schaut mich ein Kuckucksweibchen, das ein Ei im Schnabel trägt, mit großen Augen an. Der Text unter dem Bild verrät, dass das Weibchen pro Nest ein Ei des Wirtsvogels gegen eines ihrer austauscht und das bei bis zu 25 Nestern pro Saison. Erstaunlich. Der Vogel muss ein guter Beobachter sein und eine Engelsgeduld haben. Muss sie doch abwarten, bis die eigentlichen Nestbesitzer ausgeflogen sind, um ihr „faules“ Ei im unbewachten Nest zu hinterlassen. Doch was mich wirklich erstaunt: der Kuckuck spricht auf einmal zu mir. Sie hat das Ei auf den Tisch meiner Kollegin fallen lassen und ruft unaufhörlich: „gu-kuh!“, „gu-kuh!“, „gu-kuh!“. „Psst, raune ich. Mach doch nicht so einen Krach!“. Ich schaue mich vorsichtig im Büro um, doch außer mir scheint niemand den Kuckuck gehört zu haben. Meine Oma hat immer gesagt, man müsse die Münzen in seinem Portemonnaie schütteln, wenn man einen Kuckuck rufen hört. Dann würde sich das Geld vermehren. Ich glaube die Mär und raschele unter dem Schreibtisch heimlich mit meinem Portemonnaie. Da bald Monatsende ist, sollte das mit der wundersamen Geldvermehrung auf meinem Konto klappen. Das zerbrochene Ei sickert langsam zwischen unseren Schreibtischen durch und kleckst auf den Boden. Ob das aus dem Teppich wieder rausgeht, frage ich mich und merke nicht, wie sich der Kuckuck aus dem Kalender schält. Hops, da sitzt sie plötzlich auf meinem Telefon. Ich überlege, ob ich sie ignorieren oder direkt bei einem Psychiater anrufen soll. Vielleicht liegt es an den fettigen Süßkartoffeln, die ich gestern Abend gegessen habe. Ich habe kurz nicht aufgepasst, schon wühlt der Kuckuck in meinem Salat, der frisch eingetuppert neben meinem Computer steht. „Da sind ja gar keine Raupen im Salat“, sagt der Kuckuck verächtlich. Ich höre weg. Bis ich einen spitzen Schnabel in meinem Bein spüre. „Aua!“, fährt es aus mir heraus. Meine Kollegin lugt hinter ihrem Bildschirm hervor und schaut mich fragend an. „Hab mich nur gestoßen“, sage ich und reibe mein Bein. Der Kuckuck ist dem Salat wieder entstiegen und schlabbert das zerlaufene Ei vom Teppich auf. Das Problem wäre gelöst. „Was treibst du da?“, fragt die schmatzende Kuckucksdame. „Geld verdienen“, sage ich. „Geld verdienen? Was ist das? Kann man das essen?“. „Nein, nicht direkt, aber wenn man Geld hat, kann man sich etwas zu essen kaufen“. „Schmetterlingsraupen?“. „Wie, Schmetterlingsraupen?“. „Na zum Essen“. „Igitt, nee, aber Eier kann man kaufen“. „Eier kann ich dir auch so besorgen“. Das wäre also geklärt. Eier besorgt mir der Kuckuck und ich muss kein Geld mehr verdienen. Wenn es doch bloß so einfach wäre. Ich will aber nicht nur Eier, sondern Schokolade, Freude, Glück...die Liste nimmt kein Ende. Ob der Kuckuck das auch alles beschaffen kann? Wahrscheinlich nicht, ich frage trotzdem.
Leider kennt Frau Kuckuck die Sachen alle nicht, bietet mir dafür aber an, Spinnen und sogar noch Tausendfüßer zu besorgen. Ich lehne ab. Meine Kollegen gehen in die Mittagspause, ich bleibe alleine im Büro. Fast alleine, der Kuckuck ist immer noch da. „Wie bist du überhaupt aus dem Kalender gekommen?“, frage ich nach. „Spielt doch keine Rolle, ich bin da und jetzt machen wir uns eine lustige Zeit“, kommt es prompt zurück. „Lustige Zeit? Wie soll die denn bitte aussehen? Ich muss doch arbeiten“. „Ich vertausche einfach die Computermäuse, dann kann keiner mehr arbeiten“, lacht sich der Kuckuck in die Vogelkralle. Kennt keine Schokolade, aber Computermäuse, sehr seltsam. Während ich noch grübele, flattert die freche Vogeldame von Schreibtisch zu Schreibtisch und vertauscht tatsächlich die Mäuse. Hektisch räume ich alle Mäuse an ihren richtigen Platz zurück. „Spielverderber“, krächzt der Kuckuck und lässt einen großen Vogelschiss auf den Teppich platschen. „Du nervst“, rutscht es mir heraus. „Ich nerve? Du nervst dich selber. Sitzt hier herum mit einem Gesicht als wären alle deine Eier schlecht geworden. Deshalb bin ich aus dem Kalender gekommen. 26 Tage konnte ich mir das Elend anschauen, aber heute war das Maß voll.“ Ich schlucke. Dann sage ich trotzig: „Ich habe gar keine Eier, die schlecht werden können“. Stille. Der Kuckuck kommt näher gehüpft und stupst mich sanft an. „Das weiß ich doch“, gibt sie zurück, „das ist eben eine Kuckuckredensart“. „Scher dich zum Kuckuck“, das sagt man als Menschenredensart. „Jetzt wirst du aber gemein“, protestiert der Kuckuck. „Ach, alle sollen sich zum Kuckuck scheren, die Kollegen, die Menschen auf der Straße, in der Bahn, sollen sie doch alle bleiben wo der Pfeffer wächst!“. „Die Redensart gefällt mir schon besser. Aber sei doch nicht so erbost, komm wir öffnen das Fenster und fliegen davon“. „Siehst du irgendwo Flügel an mir?“. „Nein, an dir nicht, aber in dir. Da sehe ich Flügel, die so reich sind an Fantasie, Lebensfreude und Mut, dass du damit einmal um die Welt fliegen könntest“. Tränen steigen mir in die Augen. „Du musst sie nur ausbreiten. Nur weil sie dir einige Male gestutzt wurden, heißt das nicht, dass sie nicht bereits wieder nachgewachsen sind“. Ein Kuckuck, der aus einem Kalender steigt, spricht und Computermäuse kennt. Wenn es das gibt, warum dann nicht das Fenster öffnen und es probieren? Wir stehen nebeneinander auf dem Fensterbrett, schauen uns an und der Kuckuck gibt das Kommando: eins, zwei, gu-kuh! Wir fliegen.